Ein legendärer Rundfunk-Oldtimer Alter Ü-Wagen hat nun neues Fahrwerk
Anstel · Tonmeister Holger Siedler war mit seinem rollenden Ton- und Videostudio (www.ths-studio.de) viele Jahre unterwegs. Nun erhielt sein „Bläuling“, Brüderchen von „Violetta“, dem legendären Rundfunk-Übertragungswagen von WDR-Moderatoren-Legende Carmen Thomas, nach 38 Jahren „on the Road“ ein neues Fahrwerk mit Fahrerkabine.
Es war eine komplizierte Operation am Lkw-Oldtimer, den die Ansteler Werkstatt Poggel nach monatelanger Planung vollführte. Meister Wolfgang Poggel: „Wir betreuen den Oldtimer seit vielen Jahren. Nun aber war die Zeit gekommen, die Tonregie im Kastenaufbau auf neue Räder zu stellen.“
Mit anderen Worten: Der Geist war immer noch willig, gerade weil dieser alte Ü-Wagen eine besondere Akustik hat und damit auch klanglich ein High-End-Studio war. Nur das Fleisch war schwach geworden nach den vielen Kilometern auf dem Weg zu den Konzertsälen, nicht nur in Deutschland.
Der erfahrene Werkstattmeister: „Für den Oldtimer wird der Traum manch eines Menschen war: Das Gehirn als kreative Schaltzentrale mit der genialen akustischen Schale erhält einen neuen Körper.“
Damit sein „Bläuling“ mobil bleibt, vertraut der 72-jährige Tonmeister sein rollendes Studio nur den Jungs der Werkstatt Poggel an. Aus gutem Grund: Werkstatt-Mitinhaber Martin Neubauer versteht nicht nur eine Menge von Automobilen, sondern erlernte selbst das Tontechniker-Handwerk Anfang der 80er Jahre in den CRS-Studios in Los Angeles.
Er war dabei, wenn Superbands wie „Deep Purple“ und „Kool & the Gang“ ihre LPs einspielten. Kein Wunder also, dass die beiden sich trafen und fanden: „Als Holger vor Jahren zum ersten Mal mit seinem Ü-Wagen hier vor der Türe stand, schloss sich für mich ein Stück Lebenskreis. Das Ziehen der vertrauten Regler am riesigen Mischpult ging mir nahe. Ja, ich geb’s gerne zu.“
Der „Magirus-DeutzM90“ stammt aus der letzten Baureihe, bevor die Marke in „Iveco“ aufging. Unter der Haube arbeitet ein Vier-Zylinder-Diesel mit Luftkühlung. Er leistet 85 PS und gilt unter Kennern als „unkaputtbar“.
Nur das Fahrwerk hat – im wahren Sinne des Wortes – Federn gelassen. Als dann vor einigen Monaten ein Zwillingsreifen bei voller Fahrt eigene Wege ging, war allen Beteiligten klar: „Bläuling“ ist altersschwach. Und Ersatzteile für eine Frischzellenkur waren kaum noch zu finden.
Die geniale Idee: Der Studio-Koffer erhält ein neues Mercedes-Chassis mit modernem Führerhaus. Bis Tonstudio-Aufbau und Fahrwerk Hochzeit feiern konnten, waren einige technische Hürden zu nehmen. Doch dann, nach Monaten der Vorbereitung war Mitte des Jahres endlich der Hochzeitstag da: Der Mercedes fährt vorsichtig unter den Aufbau, der auf einer Hebebühne trohnt.
Diese senkt in Zeitlupe das mobile Studio ab. Dann folgten Arretierung und das Anschließen ans neue „Mutterschiff“.Der alte Sechstonner kann auf eine bewegende Geschichte zurückblicken: Von Anfang der 80er Jahre an diente er als Ausbildungs-Ü-Wagen beim Bayrischen Rundfunk in Nürnberg. Als er dann Anfang des Jahrtausends ausgemustert werden sollte, rettete ihn ein Kollege von Holger Siedler vor der Schrottpresse.
2009 erwarb der Gohrer den Wagen, der „inzwischen in der Eifel Grünspan angesetzt hatte“. Siedler: „Es roch modrig da drin und Schimmel hatte sich breit gemacht.“ Aber der Kern, eine aufwändige akustische Dämmung, die seinerzeit vom „Frauenhofer Institut“ und dem Bayerischen Rundfunk entwickelt worden war, war zum Glück gesund.
Gemeinsam mit einem befreundeten NDR-Techniker baute er den „Bläuling“ neu auf. Der Studioboden erhielt einen Parkettbelag und jede Menge Technik vom Feinsten. Herzstück ist ein TASCAM -M700-Mischpult, über das 80 Spuren analog gemischt werden können, inklusiver Sechs-Kanal-Surround-Technik. Siedler: „Alles ist crashsicher, weil wie im Flugzeug doppelt ausgelegt. Denn bei Live-Aufnahmen darf nichts schiefgehen.“
Siedler, der für ein renommiertes Klassik-Label und diverse öffentlich-rechtliche Radiosender arbeitet, sieht sich als „Produzent und Bewahrer von Kulturgut“.
Mit diesem Auftrag im Musikerherzen war er mit seinem hellblauen Sechstonner in vielen Ländern unterwegs. Dabei hat er Aufregendes und manchmal auch Musikhistorisches erlebt: So zum Beispiel nahm er 2011 unter Polizeischutz live das Konzert des „Israel Chamber Orchestra“ unter Roberto Paternostro während der Bayreuther Festspiele auf. Die israelischen Musiker spielten Richard Wagner, was nach wie vor in Israel verboten ist wegen Wagners Nähe zum Nationalsozialismus. Und es gab Morddrohungen, so dass Spürhunde den Konzertsaal inspizieren mussten.
Siedler: „Nach der Aufnahme kamen die Musiker zu mir in den Ü-Wagen, um die Aufnahme zu hören. Sie waren sehr bewegt und hatten Tränen in den Augen". Dieser Mitschnitt wurde später ein historisches Dokument.
In der Tonmeisterszene haben viele die Oldtimer-OP mit großem Interesse verfolgt. Und so geht der „neue Bläuling“ mit frischer Mercedes-Power schon bald wieder auf Aufnahmetour. Denn ans Aufhören denkt Holger Siedler, der längst im Rentenalter ist, noch lange nicht: „Wir beide haben noch viel vor. Schade nur, dass mir selbst keiner ein neues Fahrwerk spendieren kann.“
Bleibt noch die Frage, was aus dem alten Magirus wird. Auf seinem Fahrwerk baut ein junges Paar in Norddeutschland seine Zukunft auf. Bald trägt der Oldtimer auf seinem Rücken ein mobiles „Tiny House“.