Initiative„Kurve kriegen“ Frühe Hilfe statt späte Härte
Rhein-Kreis Neuss · Sehr jung und doch schon kriminell – bevor sich Kinder und Jugendliche zu sogenannten Intensivtätern entwickeln, greift die Polizei NRW mit einem einzigartigen Konzept ein: der Landesinitiative „Kurve kriegen“. Innenminister Herbert Reul und Landrat Hans-Jürgen Pertauschke eröffnetem vor Kurzem den „Kurve kriegen“-Standort im Rhein-Kreis Neuss.
„Zehn Jahre nach dem Start ist die Initiative zu einer echten Institution geworden. Bis Ende 2021 wird sie in 35 von 47 Kreispolizeibehörden verankert sein. ,Kurve kriegen’ ist unser Gold-Standard im Kampf gegen Jugendkriminalität“, so Reul. Innerhalb von zehn Jahren konnten fast 1.700 junge Straftäter oder die, die auf dem Weg dahin waren, in das Programm aufgenommen werden, 800 Teilnehmer gingen dabei als erfolgreiche Absolventen hervor.
„Kurve kriegen“-Standort Nummer 24 ist nun seit dem 1. Juli der Rhein-Kreis. Das Team in Neuss besteht aus den zwei polizeilichen Ansprechpartnerinnen Kriminalhauptkommissarin Stephanie Pampel und Kriminalhauptkommissarin Ira Klug vom Kriminalkommissariat „Prävention und Opferschutz“ sowie den Pädagogischen Fachkräften Sara Glanz vom „Sozialdienst Katholischer Männer“ in Neuss und Madeleine Geraths vom „Sozialdienst Katholischer Männer Rheydt“. „Das ist es, was ,Kurve kriegen’ ausmacht: unterschiedliche Professuren mit unterschiedlichen Blicken auf die Umstände sowie deren unterschiedliche Werkzeugkästen verbunden zu einem Team“, betont Reul.
„Es ist wichtig, Kinder und Jugendliche nicht von vornherein als kriminell abzustempeln. Vielmehr ist eine positive Herangehensweise gefragt, um sie nicht abdriften zu lassen und auf den rechten Weg zurückzubringen“, erklärt Pampel, die mit der Implementierung der Initiative betraut wurde. Durch die polizeilichen Ansprechpartner erfolge in Zukunft regelmäßig eine Recherche in den Systemen der Polizei zur Zielgruppe.
Mögliche Teilnehmer im Alter von acht bis 15 Jahren werden herausgefiltert, die in den vergangenen zwölf Monaten mindestens eine Gewaltstraftat oder drei Eigentumsdelikte begangen haben, die zur Anzeige gebracht wurden. Dann folge eine erste Kontaktaufnahme und ein Kennenlernen des möglichen Teilnehmers und seiner Familie. „Teilnahme kann dabei nur freiwillig erfolgen“, betont Pampel und nur mit einer Einwilligungserklärung wird der nächste Schritt, die Weitergabe der Daten an die pädagogische Fachkräfte, erfolgen.
In Bezug darauf erklärt Sara Glanz, eine der beiden Fachkräfte im Rhein-Kreis Neuss: „Im Rahmen unserer Arbeit sind uns drei Punkte besonders wichtig: die absolute Freiwilligkeit der Teilnehmer; die Haltung gegenüber der Teilnehmer und ihren Familien – sie ist geprägt von Vertrauen, Zuverlässigkeit, Geduld und Wertschätzung – sowie die enge Kooperation mit Behörden und Institutionen.“
In drei Phasen teilt sich die Arbeit der Pädagogischen Fachkräfte, wie Madeleine Geraths erklärt: Clearing, Betreuung und Übergangsmanagement. Beim Clearing geht es darum in in der Regel bis zu sechs Wochen, die Teilnehmer und ihre Familie sowie die aktuelle Lebenssituation kennenzulernen und Vertrauen zueinander aufzubauen. Am Ende werden gemeinsam erste Ziele festgelegt. In der Betreuungsphase sollen die Ziele dann mit Unterstützung der Fachkräfte umgesetzt werden. Durchschnittlich zwei Jahre dauert diese Phase. Dabei wird permanent die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Maßnahmen geprüft.
In der letzten Phase, dem Übergangsmanagement geht es schließlich darum, nach der intensiven Zeit, in der eng zusammengearbeitet wurde, die Betreuung langsam auszuschleichen. „Wir betreuen aktuell zwei Teilnehmer, einen elfjährigen Jungen und ein fünfzehnjähriges Mädchen. Weitere Teilnehmer befinden sich in der Prüfung durch die polizeilichen Ansprechpartner“, berichtet Glanz.
Die Jugendkriminalität im Rhein-Kreis Neuss ist laut Landrat Hans-Jürgen Petrauschke im vergangenen Jahr gegenüber 2019 leicht gestiegen. Bei den Tatverdächtigen bis 14 Jahren erhöhte sich die Zahl von 267 auf 284, die Zahl der Taten von 263 auf 295. Bei den Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren sank zwar die Zahl der Tatverdächtigen von 915 auf 892, doch die Straftaten stiegen von 1.172 auf 1.207. Rund 1,7 Millionen Euro Folgekosten, die von der Gesellschaft getragen werden müssen, verursacht ein Intensivtäter im Durchschnitt bis zu seinem 25. Lebensjahr.
Laut Petrauschke sei es wichtig, möglichst früh einzugreifen, um die Kinder und Jugendlichen auf einen besseren Weg zu leiten. Und die Initiative „Kurve kriegen“ hat in ihren zehn Jahren seit Bestehen bewiesen, dass es mit dem Einsatz der Fachkräfte möglich ist.