Nach Jahrzehnten erklang wieder das „Kaddisch“
Hemmerden · Auf Einladung des „Arbeitskreises Judentum“ im Geschichtsverein Grevenbroich um Ulrich Herlitz waren vom 8. bis zum 11. November Kinder und Enkel von Hemmerdener Holocaustüberlebenden an die Erft gekommen.
Ihre Großeltern – mütterlicherseits alle Töchter von Lazarus Winter – wurden im Holocaust ermordet.
Von den Kindern überlebten Alfred Theisebach (der mit einem Kindertransport nach England und dann in die USA kam), Sofie Aussen (die in den Niederlanden versteckt wurde) sowie Walter Theisebach und Helmut Sachs, die das Ghetto Riga und das KZ Stutthof überlebten.
Neil Theise aus New York, Sohn von Alfred Theisebach, traf nun zum Teil nach Jahrzehnten, zum Teil erstmalig die aus Polen stammenden Söhne von Walter Theisebach, seine Cousins Arie Janusz, Alfred und Bogdan sowie drei deren Kindern.
Norbert Winter als Sohn von Helmut Sachs kam aus Berlin nach Grevenbroich und Carry-Bosman Levi als Tochter von Sofie Aussen reiste aus den Niederlanden an.
So war die Gedenkwoche zugleich auch eine Begegnungswoche, ja sogar ein Familientreffen und eine Familienzusammenführung. So sahen sich die meisten Cousins und Cousine Carry zum ersten Mal hier in Grevenbroich.
Fotos aus besseren Zeiten vor dem Novemberpogrom der „Reichskristallnacht“, die letztlich in die Deportation nach Riga am 11. Dezember 1941 führte, wurden ausgetauscht. Ebenso Familiengeschichten, die von einer vergangenen, aber glücklichen Zeit der Großeltern und Eltern als Kinder in Hemmerden zeugten.
Im Rahmen der Programmpunkte der Gedenkwoche standen dann zunächst die Novemberpogrome des 9. November 1938 im Vordergrund. Dazu gehörten der Besuch des „Menorah-Abends“ im Pascal-Gymnasium, der Gedenkstunde von „KKG gegen das Vergessen“ auf dem Synagogenplatz und eine Stolpersteinführung der Konfirmanden und deren Eltern aus der Stadtmitte.
Auch bei der Ausstellungseröffnung „Nacht des Terrors“ waren die Familienangehörigen zugegen, in der neben zahlreichen Exponaten die Ulrich Herlitz übergebenen, geschändeten Seiten der Grevenbroicher Tora-Rollen zu sehen sind. Auch der Versuch der strafrechtlichen Verfolgung der Novemberpogrome wird dort thematisiert.
Besonders intensiv war auch ein Besuch in der früheren Hemmerdener Synagoge, die ebenso wie die Grevenbroicher und Gindorfer Synagogen in der „Kristallnacht“ heimgesucht und geschändet wurden. In der 1859 erbauten Hemmerdener Synagoge, zu deren Eröffnung die Tora-Rollen verbunden mit einem großen Fest für alle Dorfbewohner durch die Straßen Hemmerdens getragen worden waren, hatten Generationen von Vorvätern und Müttern der Theisebach, Sachs und Aussen aus der Winter-Linie gemeinsam ihren Glauben gelebt, Feste gefeiert und glückliche Zeiten erlebt.
Zweimal in der Gedenkwoche erklang seit langer Zeit wieder das von Neil Theise vorgetragene Kaddisch, das traditionelle jüdische Gebet zur Lobpreisung Gottes auch im Angesicht des Todes.
Unter Anderem wurde das Kaddisch auf dem Hemmerdener Friedhof für die Angehörigen der dortigen Familien gebetet, darunter auch die Eltern, Schwester und Schwager der im Jahre 1998 bereits verstorbenen Marianne Stern-Winter, eine weitere Cousine der Bosman-Levi.
Neil Theise war unmittelbar vor seinem Besuch anlässlich der Gedenkwoche in Grevenbroich nach Riga gereist, um die Täterorte, die Mahnmale, die Massengräber der in Riga ermordeten Juden zu besuchen und um seine Familie und die ermordeten Hemmerdener Juden zu trauern.
In berührenden Worten teilte er auf dem Synagogenplatz am 80. Jahrestag des Novemberpogroms „Kristallnacht“ seine Gedanken, Empfindungen und seine Trauer um die Angehörigen. Besonders tröstlich waren seine Worte, in denen er betonte, die Ernsthaftigkeit, mit denen sich viele Grevenbroicher mit dem Holocaust auseinandersetzen, zu spüren. Zeugenschaft vom Holocaust müsse auch Konsequenzen in unserem Handeln heute zeigen. Neil Theise endete mit dem Satz von Rabbi Rami Shapiro, dass niemand verpflichtet sei, die Erinnerung zu vollenden, aber auch niemand sich frei fühlen könne, diese zu beenden.
So stand vor allem auch die Begegnung mit der nächsten Generation auf dem umfangreichen Programm. Sehr intensive Gespräche und Auseinandersetzungen mit den Familienbiografien führten jugendliche Schüler der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule und Konfirmanden aus Hemmerden und Wevelinghoven.
Bereitwillig gaben die Holocaustüberlebenden der zweiten Generation Auskunft sowohl zu ihren Familien, aber auch, wie sie selber damit leben lernten und wie sie bis heute damit umgehen, Kinder von Holocaustüberlebenden zu sein.
Waren die Holocaustüberlebenden der zweiten und dritten Generation noch mit gemischten Gefühlen nach Grevenbroich gekommen, verließen sie nach zwar anstrengenden Tagen Grevenbroich, aber nach einem trotz aller schrecklicher Erinnerungen gutem Gefühl, im Familienverbund über alle Grenzen hinweg gestärkt in die USA, nach Polen, den Niederlanden und Deutschland zurückzukehren.
Und mit dem Wissen, dass das Deutschland von heute sich seiner Geschichte stellt und die Erinnerung daran auch den nächsten Generationen weitergibt. Gemeinsam mit den Familien will Geschichtsvereinsvorsitzender Ulrich Herlitz nun die „Hemmerdener Gesichter“, ihre Biographien inklusive der Überlebensgeschichten der Holocaustüberlebenden, niederschreiben.