Wie viel Leid kann eine Mutter, kann ein Vater ertragen? „Eine Aufklärung werden wir nicht mehr leisten können“
Ein Kind zu verlieren, schlägt eine Wunde, die nie heilt. Wenn man dann noch nicht weiß, ob das Kind, das man beerdigt hat, wirklich das eigene ist, übersteigt das Leid die Grenzen des Vorstellbaren. Schier unerträglich wird es aber, wenn die Ermittlungsbehörden am Ende unverrichteter Dinge „den Aktendeckel schließen“ müssen und zu dem Fazit kommen: „Nichts hat uns der Wahrheit nähergebracht.“ Doch der Reihe nach...
Grevenbroich. „Ich suche mein Kind. Und vielleicht sucht er uns ja auch.“ Ibrahim Kazankiran kämpft bei seinem Besuch in der Redaktion des Erft-Kurier mit den Tränen. Und seine Geschichte hinterlässt eine Gänsehaut. Mehr noch – eine sehr tiefe und mitfühlende Trauer.
Alles begann im Februar des Jahres 1993. Damals war der kleine Ali Ser gerade etwas über fünf Monate alt. Er war eines der Kinder von Ibrahim und Hanim Kazankiran. Eines Tages kam es zu einem Sturz; der kleine Junge verletzte sich dabei.
„Wir sind sofort mit ihm ins Krankenhaus gefahren“, berichtet der Vater. Von Grevenbroich wurden sie ins Lukaskrankenhaus nach Neuss verwiesen. Da untersuchte man das Kind und behielt es zur Beobachtung in der Klinik. Mutter Hanim blieb bei ihm.
Irgendwann wurde klar, dass das Kleinkind Gehirnblutungen hatte. Es kam in die Uniklinik nach Düsseldorf, wurde operiert und kam an die lebenserhaltenden Maschinen. Dann die Nachricht: Ali Ser fiel ins Koma.
Da der Vater arbeiten und die Mutter sich um die anderen Kindern kümmern musste, sagte die Uniklinik zu, sich sofort zu melden, wenn es Neuigkeiten geben würde.
Der Anruf kam, war aber alles andere als erfreulich: Als die Kazankirans in Düsseldorf ankamen, erfuhren sie, dass der Junge wohl nicht mehr aus dem Koma erwachen würde und dass deshalb die Maschinen abgestellt würden. Ein Sozialarbeiter würde sich bei ihnen bezüglich der Beerdigung noch melden. Während der Heimfahrt sagte Hanim: „Hast du das Baby gesehen? Es war so groß. Es war nicht unser Baby.“
Ihr Mann heute: „Ich habe gedacht, aus ihr sprechen Trauer und Verzweiflung einer Mutter.“ Deshalb
habe er zunächst auch nicht weiter reagiert.
Dann die Beerdigung auf dem Grevenbroicher Friedhof. Der türkische Trauerredner lässt seiner Tradition folgend den kleinen Sarg öffnen, vollzieht die Riten und dann wird der Sarg tief in die Erde herabgelassen.
Und wieder kommen der Mutter Zweifel: Die Größe und zerkratzte Fingernägel geben ihr die Gewissheit, dass das nicht ihr Kind sei.
Im Laufe der Jahre wird ihre Verzweiflung immer größer; sie wird psychisch krank und depressiv. Und auch im Vater wachsen die Zweifel bis zur Verzweiflung heran. Schließlich bemühen sie sich, einen Anwalt zu finden, der eine Exhumierung und DNA-Tests in die Wege leitet.
„Die ersten drei Anwälte haben gesagt, dass man da nichts machen könne. Es sei viel Zeit vergangen und in Deutschland hätten auch Tote noch Rechte, nämlich das Recht auf die Totenruhe“, berichtet Kazankiran weiter. Erst der vierte Anwalt aus Dortmund setzte 2013 eine Exhumierung durch.
Die DNA der Knochen wurden mit der der Mutter verglichen: keine Übereinstimmung. Allerhöchste Zeit, dass sich nun auch die Staatsanwaltschaft einschaltete.
Die veranlasste eine zweite Exhumierung; jetzt wurde die DNA auch mit der des Vaters verglichen. Wieder keine Überstimmung. Wer war das Kind im Grab? Und was wurde aus Ali Ser?
Die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft wurde aktiv, stellte Untersuchungen an, beschlagnahmte Akten. „Es lässt sich heute nicht mehr feststellen, was passiert ist“, macht Dr. Peter von der Staatsanwaltschaft deutlich.
Und weiter betont er: „Die Eltern haben jedes Recht verzweifelt zu sein. Aber wir haben keine Möglichkeit, diese Verzweiflung zu beenden. Nichts hat uns der Wahrheit näher gebracht.“
Weder in den Krankenhausakten noch in der „Historie des Grabes“ habe sich eine schlüssige Antwort gefunden. „Eine Aufklärung werden wir nicht mehr leisten können“, seufzt Dr. Peter, der viel Verständnis dafür hat, dass die Eltern sagen würden: „Es kann doch nicht sein, dass die Akten zugeklappt werden.“
Dass dem aber so ist, habe inzwischen auch die nächsthöhere Ebene bestätigt, die der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft in ihrer Einschätzung vollumfänglich folgt.
Den Kazankirans bleibt das Grab auf dem Friedhof an der Montanusstraße, in dem nicht ihr Kind liegt, das sie aber über viele Jahre hinweg mit Kerzen, Blumen und Spielsachen geschmückt haben. Und die Hoffnung, dass Ali Ser vielleicht doch noch irgendwo lebt. „Ich suche mein Kind. Und vielleicht sucht er uns ja auch.“ Dieser Satz von Ibrahim Kazankiran brennt sich regelrecht ein. Wie viel Leid kann eine Mutter, kann ein Vater ertragen?
Gerhard Müller