Dr. Ulrike Guérot über Europa: „Wenn es um die Wurst geht, ducken sich alle weg“
Grevenbroich · Publizistin und Professorin, Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems in Österreich, Gründerin des European Democracy Lab in Berlin. Man könnte fast meinen, Guérot und Euorpa würden in eines fließen, so sehr hat sich Dr. Ulrike Guérot (53) "Europa" zu Eigen gemacht.
In einem Interview mit Reporterin Alina Gries, sprach die gebürtige Grevenbroicherin über die Traditionen der einzelnen Republiken, Deutschland in seiner führenden Position eines funktionierenden Europas und darüber, was sie denn eigentlich am Konzept "Europa" ändern würde.
Was genau machen Sie eigentlich?
Das ist eine kluge Frage, denn, wie die große Philosophin Hannah Arendt in ihrem Buch "De Vita Activa" ("Vom tätigen Leben") schreibt, kann man Denken ja nicht sehen. Insofern ist es schwer zu beschreiben, was man eigentlich "macht", wenn man über die Zukunft Europas nachdenkt. Ist das eine Tätigkeit, eine Aktivität? Kann man Denken sehen? Kommt ein Produkt dabei heraus und kann man dieses Produkt dann anfassen? Nein, natürlich nicht! Und doch ist es genau das, was ich mache: Ich versuche — zusammen mit den Mitarbeitern in meinen beiden Büros an der Uni und im Lab — konstruktiv über die Zukunft der europäischen Demokratie nachzudenken. So wie die Ingenieure derzeit versuchen, selbstfahrende Autos zu modellieren, so versuchen wir, ein neues Modell für eine europäische Demokratie zu entwerfen.
Sie haben die Denkfabrik "European Democracy Lab" gegründet. Was genau ist das? Wie sind Sie auf diese Idee gekommen und warum ist das so wichtig?
Ich habe das Lab gegründet, weil ich enttäuscht darüber war, wie die EU mit der Euro-Krise umgegangen ist, und weil ich wirklich Angst um Europa hatte. Ich habe, noch bevor wir jetzt alle das Aufkommen von Nationalismus und Populismus beklagen, schon gedacht, dass die europäischen Diskussionen, die wir führen, alle in die falsche Richtung laufen. Anders formuliert: Wir waren alle schnell dabei, das große europäische Einigungs- und Friedensprojekt zu verraten, übrigens auch Deutschland. Jeder hat dem anderen die Schuld für die Krise zugeschoben. Alle Länder haben sich in der Euro-Krise re-nationalisiert und sind zu Opfern geworden. Alle haben Schuld von sich gewiesen. Dabei hat jedes Land auf seine Weise einen Anteil am Fehlverhalten, übrigens auch Deutschland, das sich ja gerne in einer europäischen Vorbildrolle sieht. Aber alle Länder sind eigentlich zu Opfern von einem unfertigen Euro-System geworden.
Und wonach richtet sich das Lab letzten Endes?
Dieser Debatte wollte ich mit dem European Democracy Lab einen breiteren öffentlichen Raum geben und auch dazu beitragen, dass dieses Problem in verständlicher Sprache einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wird. Darum steht das Lab unter dem Motto: "Ein Markt — eine Währung — eine Demokratie". Und wir beschäftigen uns also mit der Frage, wie diese eine europäische Demokratie, die wir noch nicht haben, aussehen könnte oder sollte; und was die Hindernisse auf dem Weg zu ihr sind, zum Beispiel die fehlende gemeinsame Sprache.
Wie sehen Sie die weitere Entwicklung Europas?
Meine Antwort zur weiteren Entwicklung Europas schließt genau an die Antwort an, die ich gerade gegeben habe: Ich bin davon überzeugt, dass Europa weiterentwickelt werden muss — und zwar um die eine Demokratie, von der ich rede. Oder — wenn wir das nicht tun — wir Gefahr laufen, in Europa zu verlieren, was wir jetzt haben und wovon wir alle sehr profitieren, vor allem die Deutschen — nämlich den einen Markt und die eine Währung.
Ist der "Brexit" gefährlich?
Die Briten machen es mit dem "Brexit" ja gerade vor und erfahren schmerzhaft, was es kostet, den Binnenmarkt zu verlieren. Die Briten bereuen ihre Entscheidung ja jetzt schon. Dahinter steht die Tatsache, dass die europäischen Freiheiten eben unteilbar sind: Freizügigkeit für Personen, Güter, Dienstleistungen und Kapital gehören alle zusammen. Die Briten hätten jetzt gerne nur Freizügigkeit für Güter und Kapital, nicht aber für Personen. Das geht aber nicht.
Was halten Sie von Europa?
Wir werden als Bürger von Frankreich, Finnland, Slowenien oder eben Deutschland ständig innerhalb der EU gegeneinander ausgespielt: die einen dürfen dies, die anderen das. Die so genannten "nationalen Interessen" sind also nichts anderes als das Bemühen eines Landes, einen wirtschaftlichen Vorteil über ein anderes Land zu erzielen, wofür die Bürger instrumentalisiert werden. Das aber ist mit einer Demokratie nicht vereinbar, denn innerhalb einer Demokratie werden Bürger nicht zueinander in Konkurrenz gesetzt. So bekommen zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland alle Bundesbürger, wenn was schief geht, am Ende alle das gleiche Arbeitslosengeld oder Harz IV. Perspektivisch müsste das für die Länder der Eurozone genauso sein. Dann würden wir keine chauvinistischen Debatten mehr führen darüber können, dass die Griechen vermeintlich alle mit 50 in Rente gehen, wir aber alle bis 67 arbeiten müssen. Der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz, das ist mein zentraler Punkt, muss perspektivisch für alle europäischen Bürger gleichermaßen gelten, wenn wir wirklich eine Demokratie in Europa wollen.
Ehe Sie angefangen haben, das Department für Europapolitik und Demokratieforschung zu leiten, haben Sie in europäischen "Thinktanks" zu Fragen der europäischen Integration und Europas in der Welt gearbeitet. Was haben Sie aus dieser Arbeit an Erfahrung mitgenommen und was war etwas Grundlegendes, was Sie dabei erlebt haben?
Es ist gar nicht einfach, in wenigen Zeilen zusammenzufassen, was man in nunmehr 25 Jahren europäischer Arbeit erlebt und erfahren hat. Das Grundlegendste, was ich erlebt habe — das klingt vielleicht etwas einfach — ist, dass Europa wirklich eine Willenssache ist. In den 90er Jahren, zu Helmut Kohls Zeiten, da hat Deutschland Europa einfach gewollt, egal welches Thema, und da hat es auch funktioniert. Lange Jahre habe ich so zugebracht und immer konnte man davon ausgehen, dass alle die "ever closer union" in Europa wollen. Und weil das große und wichtige Deutschland Europa gewollt hat, haben es auch die anderen europäischen Länder gewollt, die immer sehr gut "riechen", was Deutschland will oder kann oder tut. Irgendwann, so ungefähr ab unserem Fußball-Sommermärchen von 2006, da konnte man fast fühlen, dass Deutschland sein Bekenntnis zu Europa aufgegeben hatte. Wir waren irgendwie berauscht von der erfolgreichen Wiedervereinigung, unserem Export und so weiter. Die anderen Länder wussten nicht mehr genau, woran sie waren. Dann kam die Euro-Krise, und von da an haben wir uns nur noch auseinander dividiert. Irgendwie ist meine wohl grundlegendste und auch erschreckendste Erfahrung aus all den Jahren, dass es so eine Art "europäische Bigotterie" gibt: Alle schwören auf Europa, wenn es nicht weh tut und nichts kostest. Aber wenn es um die Wurst geht, dann ducken sich alle weg.
2016 veröffentlichten Sie das Buch "Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie". Warum sind Sie der Meinung Europa müsse eine Republik werden?
Nun, ich habe mit dem Buch daran erinnern wollen, dass die Republik der älteste Begriff ist, wenn es um politische Gemeinwesen geht. Die meisten europäischen Staaten sind Republiken; wir sind ja auch nicht Deutschland, sondern eben die Bundesrepublik Deutschland. Was heißt Republik? Im Wesentlichen heißt es drei Dinge: Parlament, Gewaltenteilung und bürgerliche Gleichheit, also Rechtsgleichheit. Nichts davon haben wir heute in der EU. Dabei wäre das unser ideengeschichtliches Erbe. Es ist wichtig zu betonen, dass — wenn wir immer von Nationen oder Nationalstaaten sprechen — wir eigentlich von Republiken sprechen.
Anders formuliert: Jeder kann in einer Republik seine Identität behalten und trotzdem mit anderem im gleichen Rechtsraum sein. Deswegen wäre mein Diskussionsangebot, dass wir aus rund 50 europäischen Regionen — von Wallonien bis Böhmen - eine Europäische Republik formen.
In ihr wären die europäischen Bürger alle gleich vor dem Recht, aber jede Region würde ihre kulturelle Identität bewahren. Die Regionen würden in einem europäischen Senat vertreten, der die zweite Kammer zu einem europäischen Abgeordnetenhaus wäre. Die europäischen Bürger wären als Souverän des Systems aufgewertet, anstatt, wie jetzt in der EU, immer ein europäischer Rat entscheidet, was ziemlich intransparent ist. Darum will ja auch nie jemand für europäische Entscheidungen verantwortlich sein. Dann wären wir schon ziemlich nah dran an "Ein Markt — eine Währung — eine Demokratie".
Was würden Sie am politischen Europa ändern wollen, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten?
Ich würde, wie oben ausgeführt, den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger durchsetzen, also, dass alle gleich sind vor dem Recht, egal ob sie Schweden, Portugiesen, Slowaken oder Deutsche sind. Damit die jungen Leute von heute von Bratislava nach Barcelona oder von Hamburg nach Warschau umziehen können, ohne sich um ihr Wahlrecht, ihre Steuern und ihre Sozialversicherung scheren zu müssen.
Denn Nation bedeutet ja in erster Linie Staatsbürgergemeinschaft — und nicht Kultur, Sprache oder Ethnie. Wir hier in Grevenbroich haben weder die gleiche Küche noch Kultur noch Sprache mit den Bayern. "Tschüss" ist nicht "Pfüet di". Weißwurst nicht Bratwurst, Dirndl nicht Karneval.
Was wir hier im Rheinland mit den Bayern teilen, ist in erster Linie nicht die Kultur, sondern die Rechtsgleichheit. Wer oder was in einer Nation ist, entschiedet also das Recht, nicht die Kultur. In Ländern wie der Schweiz mit mehreren Sprachen ist das noch auffälliger. Und darum wäre mein Traum von Europa die Verwirklichung des europäischen Satzes: Einheit in Vielfalt! Wir sind rechtlich alle gleichgestellt — zahlen die gleichen Steuern und so weiter — aber kulturell sehr vielfältig und regional verschieden in Europa.