Ulrich Rückriem: Tonnenschwere Steine und zartes Grün Der Mann, der 2,4 Zentimeter sehen kann

Sinsteden · Will ein Maler eine Ausstellung in einem Museum gestalten, dann hängt er seine Bilder auf. Und fertig. Selbst für „Übergrößen“ findet sich meist der passende Platz. Bei einem Bildhauer sieht das ganz anders aus: Seine mitunter tonnenschweren Skulpturen sind nicht leicht zu transportieren, müssen gehievt werden, passen durch keine Tür und überfordern oftmals die Statik der meisten Museumsbauten. Mit anderen Worten: Sie würden aus jeder Etage gnadenlos bis in den Keller durchbrechen.

 Das „Tor“ zum geometrisch aufgebauten Rückriem-Park.

Das „Tor“ zum geometrisch aufgebauten Rückriem-Park.

Foto: KV./Gerhard P. Müller

Und von der Physik einmal abgesehen: Welcher Raum würde großen Skulpturen den wirklich passenden Rahmen bieten? Eine Problematik, der sich Ulrich Rückriem, einer der bedeutendsten europäischen Bildhauer der Gegenwart („Ohne ihn hätte Kunst im öffentlichen Raum anders ausgesehen“, so Kathrin Wappenschmidt, Leiterin des Sinstedener Kulturzentrums.), durchaus bewusst war. Deshalb wollte er seine eigenen Ausstellungshallen bauen, suchte dafür das passende Gelände. Und das recht verzweifelt. Bis er auf Dieter Patt traf. Am Ende steht ein einzigartiges „Gesamtkunstwerk“, das immer wieder internationale Besucher nach Sinsteden lockt. Doch der Reihe nach …

Im Jahre 1989 fiel der Beschluss des Kreistages, ein Landwirtschaftsmuseum zu gründen. Es sollte in einem aufgegebenen Bauernhof untergebracht werden. Ein mutiges Konzept, denn: „Wir hatten weder ein Haus noch eine Sammlung“, erinnert sich Dr. Wappenschmidt. Also wurden Mitarbeiter im gesamten Kreis auf die Suche nach einem Gehöft geschickt. Den Zuschlag bekam am Ende der Hof in Sinsteden, der aber extrem baufällig war: „Der Zustand war nicht so prickelnd.“

Gleichzeitig versuchte man eine Sammlung in Sachen „Zuckerrüben und Getreide“ zusammenzustellen. Man klapperte die Landwirte ab und ließ sich ausgediente Maschinen und Geräte geben. „Wir sind schnell ertrunken im Schrott“, lacht die heutige Museumsleiterin. Der Durchbruch kam, als „IHC Case“ in Neuss kurz vor der Schließung stand und man Kontakt dorthin aufbauen konnte. So konnte der Weg von den ersten alten Mähbalken bis zu modernen Mähmaschinen aufgebaut werden. Und auch der Blick über den Atlantik in die Vereinigten Staaten öffnete sich. (Doch das ist eine ganz andere Geschichte.) 1994 aber gab es in Sinsteden ein erstes, kleines Museum.

 Der Blick über den Schweinestall-Hügel auf die beiden Rückriem-Hallen.

Der Blick über den Schweinestall-Hügel auf die beiden Rückriem-Hallen.

Foto: KV./Gerhard P. Müller

Zu der Zeit suchte Ulrich Rückriem geeignete Ausstellungshallen für seine international gefragten (und teuer bezahlten) kolossalen Steinmonumente. In Irland hatte er zwar probehalber schon mal eine kleine Halle gebaut, doch war Rückriem weiter auf der Suche. Ein aussichtsreiches Projekt in Brüssel wurde allerdings abgelehnt und er stand wieder mit leeren Händen da.

Per Zufall traf er den damaligen Landrat, Kunstfreund und Kunstschaffenden Dieter Patt. Der packte sich Rückriem und fuhr mit ihm durch den Kreis, um nach möglichen Standorten zu suchen. In Sinsteden wurden beide dann fündig: Der ehemalige Schweinstall und der Kartoffelacker daneben erwiesen sich als perfekt. „Hier fand Rückriem genau das, was die Stadt nicht bieten kann: Platz“, so Wappenschmidt.

 In der anderen Richtung führt das „Tor“ zu den beiden Skulpturenhallen.

In der anderen Richtung führt das „Tor“ zu den beiden Skulpturenhallen.

Foto: KV./Gerhard P. Müller

Damals war Ulrich Rückriem bereits Ende 50, hatte eine große künstlerische Karriere hinter sich und die entsprechenden finanziellen Mittel zur Hand. Wappenschmidt: „Er hatte klare Vorstellungen. Immerhin war er international unterwegs. Deshalb hat man ihm auch die Freiheit gegeben, die Außenanlagen zu gestalten, wie er wollte.“

Es entstanden zwei Hallen: Die große finanzierte der Star-Künstler selbst, die andere baute der Kreis. Beide bestückte Rückriem dann mit seinen Objekten. Inzwischen hat er „seine“ Halle und seine Kunstwerke übrigens an die Sparkassen-Stiftung vermacht, was unglaublichen Wert und nicht minder viel Ansehen bedeutet.

Geschichte am Rande: Als Ulrich Rückriem die zweite Halle zum ersten Mal betrat, rümpft er die Nase und monierte, dass der Bau verzogen, „schief“ sei. Und zwar um zirka 2,5 Zentimeter, so der Künstler detailliert. Der Architekt wollte das nicht glauben, schüttelte den Kopf – und es ließ genau nachmessen. Das Ergebnis: Der Verzug beträgt genau 2,4 Zentimeter!

 Auch diese Esskastanie ließ Ulrich Rückriem punktgenau und solitär anpflanzen. Im Hintergrund die Hecke, die der Nachbar eigenhändig stutzte.  Fotos: Gerhard P. Müller

Auch diese Esskastanie ließ Ulrich Rückriem punktgenau und solitär anpflanzen. Im Hintergrund die Hecke, die der Nachbar eigenhändig stutzte. Fotos: Gerhard P. Müller

Foto: KV./Gerhard P. Müller

Mit diesem klaren Auge (und mit dem für ihn bekannten Willen, keinen Millimeter von seinem Konzept abzuweichen) machte Rückriem sich auch an die Gestaltung des Außengeländes: Den Wall am ehemaligen Schweinestall umgab er mit mannshohen Hecken und packte ihn somit in einen kleinen Park, der zur kleineren Halle hinführt.

Neben der Halle schuf er einen geometrischen Park, getragen von Hecken und Bäumen, in den ein „Tor“, gebildet aus den aufgespalteten Hälften eines mächtigen Quaders, hineinführt. Am Ende der Sichtachse steht dann ein weiterer Quader. Dahinter wiederum eine Hecke, deren Schnitthöhe von Rückriem millimetergenau vorgegeben wurde. Rechts und links vor dem Park finden sich Kirschlorbeer-Dreiecke, deren Hügel eigens angelegt wurden.

Als nächstes folgt „ein Kunstwerk, das man nicht verkaufen kann“, so die Museumsleiterin: Auf einem gedachten Schachbrett (acht mal acht Felder) hat Ulrich Rückriem acht Bäume so angerichtet anpflanzen lassen, dass in jeder Waagrechten, in jeder Senkrechten und in jeder Diagonalen maximal ein Baum steht. Für Kathrin Wappenschmidt ist dieses „Schachbrett“ das treffendste Beispiel für die „Denke“ des Künstlers: klar strukturiert, millimetergenau und unumstößlich.

 Ein Anblick, den nur wenige kennen: Hinter den Hallen haben gleich mehrere Felsblöcke ihren Platz gefunden.

Ein Anblick, den nur wenige kennen: Hinter den Hallen haben gleich mehrere Felsblöcke ihren Platz gefunden.

Foto: KV./Gerhard P. Müller

Wappenschmidt lächelt: Er komme regelmäßig vorbei. „Und es ist immer spannend, wenn er da ist. Manchmal ärgert er sich auch.“ So wie damals, als ein benachbarter Landwirt Rückriems Hecke gestutzt hatte. Da sei er rüber gelaufen und habe den Bauern lautstark zurechtgewiesen …

Von Ulrich Rückriem gibt es weltweit nur zwei Ausstellungshallen. Und beide stehen im kleinen Sinsteden. Vielleicht einfach mal beim nächsten Besuch dort (egal, ob Jazz oder Operette der Anlass sind. Auch ein Picknick auf den ehemaligen Reitwiesen ist immer möglich) die Geometrie der Parks und des „Schachbretts“ zu entdecken suchen …

Wie Rückriem tickt (1)

Als Ulrich Rückriem die Außenanlage gestalten ließ und nach „Bewegung“ in der Erdoberfläche verlangte, kam ein Baggerfahrer vom RWE, um rechts und links die Kirschlorbeer-Dreiecke aufzuhäufen. Das klappte im ersten Anlauf nicht: Der Hügel auf der einen Seite war höher als auf der anderen.

Also musste umgehäufelt werden. Doch auch der nächste … und alle folgenden brachten in Rückriems Augen keinen Gleichstand. Der Vormittag, der Mittag und auch der Nachmittag vergingen mit immer weiteren Erdbewegungen. Bis es dem Baggerfahren zu bunt wurde und er sich mit den Worten „Mach doch Deinen Sch… alleine!“ verabschiedete. „Die Dreiecke sind noch heute unterschiedlich hoch“, lacht die Museumsleiterin.

Wie Rückriem tickt (2)

Karl-Heinrich Müller, der Erschaffer der „Museums-Insel Hombroich“ und der „Raketenstation“, fragte bei Ulrich Rückriem nach, ob der nicht auch eine Skulptur „auf die Insel“ stelle wolle. Das lehnte Rückriem mit dem Hinweis ab, die Insel sei eh schon „zu voll“.

Die gleiche Abfuhr kassierte „Nestlé“ in der Schweiz: Auch dessen Park bewertete der große Künstler eh schon als vollgestellt. Als die Unternehmensbosse bettelten, doch noch einmal über das Nein nachzudenken, verschwand Ulrich Rückriem. Für mehr als zwei Stunden. Dann kam er Freude strahlend wieder: Er sei spazieren gegangen und habe unterhalb des Parks, direkt am See, einen idealen Standort gefunden. Und er wisse auch, welches seiner Kunstwerke dorthin passe.

Für „Nestlé“ ein Problem: Der Platz gehörte dem Unternehmen nicht, sondern war öffentlicher Raum.

Also musste die Politik entscheiden. Die stieß eine Volksabstimmung an, bei der die Bürger ihre Zustimmung zu dem Kunstwerk gaben. Und das steht seitdem, von „Nestlé“ finanziert, im öffentlichen Raum in direkter Seenähe …

Rückriem vs. Beuys

Kunstunterricht bei Dr. Kathrin Wappenschmidt: Während Joseph Beuys die Auffassung vertrat, dass in jedem Objekt etwas „latent Künstlerisches“ stecke, es also genüge, dass er es zur „Kunst“ erkläre,

betont Ulrich Rückriem: „Der Stein wird es dann zur Kunst, wenn ich ihn bearbeitet habe.“

Er beschreibt den Weg so: Zunächst müsse er den Steinblock im Steinbruch aussuchen. Dann müsse er ihn bearbeiten (lassen). Und danach müsse der optimale Standort gefunden werden. Und das könne, so Wappenschmidt, mit einer langen Suche nach dem Ort und der besten Ausrichtung an diesem Ort verbunden sein.