Hendrik Hildebrandt „vermisst das Weltall“ „Grevenbroicher of the Galaxy“
Südstadt · Wenn man sich länger und intensiv mit Hendrik Hildebrandt unterhält, kommt man sich recht schnell klein und unbedeutend vor. Das ist nicht die Absicht des 44-Jährigen Professors und Doktors der Astrophysik, das bringen víel mehr die Inhalte seines Berufs mit sich. Der Kosmologe ist Mitglied der im Juli gestarteten Euklid-Mission, die man, so sagt er, „durchaus als Vermessung des Weltalls“ betiteln kann. Eine international begleitete wissenschaftliche Reise ins Universum, in der auch ein kleines Stück Grevenbroich steckt: Das erste Mal, dass Hildebrandt den Saturn durch sein eigenes Teleskop sah, war mit 16 Jahren – im Garten seines Elternhauses in der Südstadt …
„Ich habe die ersten 20 Jahre meines Lebens in Grevenbroich verbracht,“ erzählt Hildebrand im Videochat, für den er an seinem heutigen Arbeitsplatz, der Ruhr-Universität Bochum, zugeschaltet ist. „Natürlich habe ich als Kind, wie viele andere sicher auch, gerne in den Sternenhimmel geguckt. Von Büchern, die die Planeten, den Mond und die Sterne zum Thema hatten, war ich fasziniert.“ Und er erinnert sich an eine kleine Anekdote: „In einer Phase meiner Schulzeit gingen so kleine Steckbriefalben in der Klasse herum, in denen unter anderem auch nach dem Berufswunsch gefragt wurde. Ich hakte damals bei meinem Vater nach, was ich werden müsste, um etwas mit Sternen zu tun zu haben...“
Allerdings, ein ausgiebiger Amateur-Astronom, wie viele seiner heutigen Kollegen, sei er damals eigentlich nicht gewesen. Das ändert sich grundlegend, Hildebrandt entwickelt sich zum Profi. Er macht 1998 Abitur am Erasmus-Gymnasium (Leistungsfächer Mathe und Chemie – „Physik“, sagt er, „kam nicht zustande“), danach Zivildienst. Um Astronom zu werden, muss man seinerzeit Physik auf Diplom studieren, spezialisiert sich im Studium auf Astrophysik. 1999 fängt er in Bonn an, 2005 macht er sein Diplom, 2007 promoviert er.
„Danach ins Ausland zu gehen ist für den Bildungsgang obligatorisch“, erzählt er. Es folgen insgesamt fünf Jahre Forschungstätigkeit im niederländischen Leiden und in Vancouver, Kanada. 2012 kehrt er nach Bonn zurück, bildet eine eigene Forschungsnachwuchsgruppe, die sich mit einer möglichen neuen Methodik bei der Vermessung von Galaxien beschäftigt. Er berichtet von Rückschlägen aus dieser Zeit, „mit denen man in diesem wissenschaftlichen Segment aber rechnen muss“, sagt er. „Sie können sogar hilfreich sein, weil man Dinge abhaken kann.“
2018 schließlich der Wechsel an die Uni Bochum. Hier bewegt er sich auf dem Aufgabenfeld einer Professur – Forschen, Lehre, akademische Selbstverwaltung und Öffentlichkeitsarbeit, „wie gerade jetzt mit Ihnen“, schmunzelt er. Zeitgleich ist er längst involviert in die Mission eines internationalen Konsortiums, der der griechische Mathematiker Euklid (wahrscheinlich 3. Jahrhundert v. Chr.) den Namen gab. Hildebrandt: „Euklid revolutionierte die Geometrie, wir versuchen mit der Mission, die Geometrie des Universums zu bestimmen.“
Im November 2011 genehmigt die Europäische Raumfahrtbehörde (ESA) das bereits Jahre zuvor initiierte Projekt, das Hildebrandt grob auf 1,5 Milliarden Euro schätzt – „darin ist etwa auch mein Gehalt enthalten“, lacht er. Im Juli dieses Jahres schließlich ist ein neues Trägerobjekt mit dem Teleskop (Spiegel-Durchmesser 1,2 Meter) in Richtung des Orbits gestartet, der rund fünfmal so weit von der Erde entfernt ist wie der Mond (1,5 Millionen Kilometer) und in dem „Euklid“ gute sechs Jahre (je nach Treibstoffverbrauch) operieren wird. Im Herbst wird es die „Langrange-Punkt 2“ genannte schleifenförmige Umlaufbahn erreichen.
Teleskope im Weltraum, erklärt der Experte, erlauben eine fünfmal bessere Auflösung als bodengebundene Geräte, da die Erdatmosphäre die Sichtbarkeit beeinflusst. Dennoch nutzen Hildebrandt und sein Team die Daten der starken Erdfernrohre für „Euklid“: „Um zu üben, Vergleichsdaten zu erhalten, die Daten von dort und von ,Euklid‘ zu kombinieren, um letztlich Form, Länge, Breite, Helligkeit und Entfernung von Galaxien bestimmen zu können.“ Hendrik Hildebrandt ist in der Mission vor allem Fachmann für die Kalibrierung des Verfahrens der Rotverschiebung (siehe Kasten).
Die in diesem Zusammenhang von ihm genannten Zahlen sind – wenig überraschend - überirdisch: „Euklid“ übermittelt hochaufgelöste Bilder von einem Drittel des so genannten Himmels (den man sich in seiner Gesamtheit als die Innenseite einer Kugel denken muss). Recht anschaulich beschrieben, kann man rund 45.000 Vollmonde auf die Fläche packen, die die gesamte Mission beobachtet. Sie umfasst mehrere Milliarden Galaxien, eben solche wie unsere Milchstraße, die wiederum aus Hunderten Milliarden Sternen besteht.
Ganz grob zusammengefasst: Aus den Bildern werden von Hildebrandt Kataloge erstellt, die Tabellen mit über einer Milliarde Zeilen ergeben, ein „Zwischenprodukt“, auf dessen Basis die bereits genannten Galaxien-Daten ermittelt werden sollen.
Kaum zu fassende Dimensionen, die, so sagt auch der Naturwissenschaftler Hendrik Hildebrandt, an fundamentalen Fragen philosophischer und religiöser Natur rütteln. Sicher auch die nach der Existenz weiteren intelligenten Lebens im Universum. Auf die Frage nach der Wahrscheinlichkeit dafür auf einer Skala von 1 (keine weitere Existenz) bis 10 (sichere Existenz) sagt der „Grevenbroicher of the Galaxy“: „Sicher kann ich aus wissenschaftlicher Sicht nicht sein. Aber: In der Milchstraße ist die Sonne einer von zweihundert Milliarden Sternen. Die meisten dieser Sterne haben auch erdähnliche Planeten mit einer festen Oberfläche. Im beobachtbaren Universum gibt es grob gesagt noch einmal so viele Galaxien wie Sterne in der Milchstraße – eine Zahl mit 22 Nullen. Da von der Einzigartigkeit der Erde auszugehen, ist vermessen.“ Die Frage würde eher sein, wie weit so ein Planet entfernt von uns sei. „Wir kommen vielleicht nie hin.“
Am Ende entscheidet sich Hendrik Hildebrandt: „Nicht 8, Ich bin eher bei einer 9!“ Faszinierend!